1 Infantiler Ŭnt'ae* In der Welt unter den Menschen kann er's kaum ertragen, wie ein sich immer nur schämendes Kind. Wenn die Hundstage überstanden sind, Sturm und Gewitterschauer mit einem Schlag einsetzen, gerade zu solchen Zeiten findet er wieder ins Leben zurück. Wenn knackend Kiefernzweige brechen, der Götterbaum mitsamt Wurzeln ausgerissen wird, gerade zu solchen Zeiten findet er wieder ins Leben zurück. Alle Scham völlig abgeschüttelt erglüht sein erkalteter Körper ganz wunderbar zu neuem Leben. Wenn sein Körper sich wie ein Bogen im Wind biegt, auf den Berggipfeln Kieselsteine umhersausen, gerade zu solchen Zeiten findet er wieder ins Leben zurück. Seine Augen strahlen, auf dem Nasenrücken kommen Schweißperlen hervor, so er ist wieder auferstanden. Anfangs halb verrückt rennt er wie toll, rennt mit dem Sturmwind wie toll zum Ende zum Anfang des Lebens. _________________ * Geburtsname Ko Ŭns 2 Der Onkel Sahaeng Auf dem Bewässerungssee von Mije ein einziger Mensch nur -- der hünenhafte Onkel Sahaeng holt eine Angelleine zum Boot ein. Ch'il-sŏng, der Sohn des Alten, ist ans Ufer herangelaufen. Es ist zu weit entfernt und selbst gebrüllt wär's aussichtslos: Vater, Vater, Mutter ist gestorben, mit offenen Augen gestorben. Zwei Menschen sind auf ewig getrennt. Die Wellen kräuseln sich. 3 Nach dem Dauerregen Der Bach angeschwollen, ein Zipfel des Feldes weggeschwemmt, und diesmal sogar ist ein Reisfeld ganz vom Wasser überspült. Das Reisfeld verwüstet! Der Eigner Ko Myŏng-sik steht da mit verschränkten Armen. Zwar nicht gänzlich übergeschnappt, weiß er doch nichts anderes zu tun, weiß weder ein noch aus und steht nur so da. Strafe für den Unschuldigen! Im Himmel -- niemand und nichts. 4 Laute des Nachtregens Es regnet. Tropfen für Tropfen spalten die Bahnen des Regens tausend- und zehntausendfach den schwarzen Lack der Nacht. Für gewöhnlich in solchen Nächten sind Vögel wie Vieh beunruhigt und wachen offenen Augs. Auch Strandvögel und Schnepfen verbringen diese Nacht geradeso wie das Meer weit aufgerissenen Augs. Der Schauer hört auf. Noch ist des Menschen Gehör vom Getrippel des Regens ertaubt. Vögel und Vieh schlummern ein. Auch die von ihnen beherrschte Nacht entschwindet. Draußen im Garten ist schließlich auch auf den Blättern der Morgenlilie das Tröpfeln ganz verstummt. Von einem höheren Standpunkt aus: Die sogenannte Arbeit der Natur ist Tatenlosigkeit. 5 Am Tag nach der Ahnenkultfeier Schnee! Auf heimatliche Fluren, die nun kahlen Äcker, fällt Schnee. Ich erinnere mich an Vater -- wann immer es schneite, fühlte er diese stechenden Schmerzen über den Augenhölen. Jetzt vom Grab am Hügel hinter dem Dorf hat man eine schöne Aussicht auf jene ferner liegenden herbstlichen Berge und Felder. Auch ich, ohne mich recht zu bedenken, hatte nun eine ganze Weile mit Vater vereint diesen Ausblick. 6 Tiefe Nacht Tausendmal, zehntausendmal finsterste Mitternacht, allein lamentiert sie vor sich hin -- da springt eine Blütenknospe auf. Daneben eine rote Blume, blüht in völliger Stummheit. 7 Nordwärts ziehende Blütennachricht Zum Lied wird, wer auch immer da stirbt in unserem Lande. Wieder geboren Wieder geboren sind zu Blumen wir verwandelt. Vom südlichsten Stück Land im ultramarienen Meer, aus dem Garten der Dorfschule auf Mara* kommt die Kunde: Die Blütenknospen springen. Nordwärts nordwärts anschwellende Blütenpracht bis nach Namyang, unserer kalten Heimat am Tumen-Fluß, bis nach Yongjŏng** in Nord-Kando, jenseits vom Fluß -- selbst hinauf bis nach Sibirien. Wenn alle Knospen springen, welch Wehklage ist's an diesem Tag im ganzen Lande. In unserem Lande sterben und verwandelt sein zu einem Lied, dem traurigen Lied, das tief in meinem Herzen zu einem Menschen wird. Wieder geboren wieder geboren ist unser Vaterland dreitausend li weit von Blüten übersät. _________________ * südlichste Insel Koreas ** Yongjŏng (chin. Longjing), war in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts das kulturelle und politische Zentrum der koreanischen Minorität in der Mandschurei. 8 Eines Tages schütteln die Toten ihre Häupter, zurückgerufen durch einen ereignisreichen Tag. Blume, du erblühst! So lebst du wie die Koryŏ-Gesellen. Diese Lebensfreude dieses Jammerlebens läßt dich erblühen! Blume du Blume 9 [Chanson] Herbstbrief Im Herbst werd' ich einen Brief schreiben. Wer du auch sein magst, bitte empfange ihn. Schon häuft sich's Laub überall. Einsame Frau, du bist schön. Im Herbst werd' ich einen Brief schreiben. Wer du auch sein magst, bitte empfange ihn. Schon wirbelt's Laub umher überall. Umherschlendernde Frau, du bist schön. Im Herbst werd' ich einen Brief schreiben. Mein ganzes grübelndes Herz send' ich dir. Schon verweht's Laub überall. Fremde Frau, du bist schön. 10 [Chanson] Kleines Schifflein Ein Schifflein war da. Ein kleines Schifflein war da. Solch ein kleines Schifflein war da. Ein Schifflein war da. Ein kleines Schifflein war da. Solch ein kleines Schifflein war da. Mit dem kleinen Schifflein kann man nicht wegfahren. Weit kann man nicht wegfahren. Allzuweit kann man nicht wegfahren. Mit dem kleinen Schifflein kann man nicht wegfahren. Weit kann man nicht wegfahren. Allzuweit kann man nicht wegfahren. Nachbemerkung Ko Ŭn (sein eigentlicher Name ist Ko Ŭn-t'ae) wurde 1933 in der Provinz Nord-Chŏlla im Südwesten Koreas als erster Sohn einer Bauernfamilie geboren. Für das Schreiben kann Ko sich schon als zehnjähriger Primarschüler begeistern. Den Ausbruch des Koreakriegs (1950-1953) erlebt er in der letzten Klasse der Mittelschule. 1952, noch während des Krieges, entscheidet er sich für ein Leben als buddhistischer Mönch. In der von ihm und einem befreundeten Mönch 1957 gegründeten Pulgyo sinmun [Buddhistische Zeitung] veröffentlichte er seine ersten Artikel und Gedichte. Nach der Studentenrevolution vom April 1960 und dem Sturz der folgenden Chang-Regierung durch den coup d'État des (buddhistischen) Brigadegenerals Park Chung Hee gab Ko 1962 das Mönchsleben aus Protest über die politische Haltung und innere Organisation der buddhistischen Orden auf. Im Jahre 1963 übersiedelte er auf die Insel Cheju, um hier eine kleine Schule für Kinder mittelloser Familien zu gründen. Er selbst lebte zu dieser Zeit von der finanziellen Unterstützung eines engen Freundes. Auf Cheju-do entwickelt Ko sich zum chronischen Trinker und unternimmt mehrere Suizidversuche. Vier Jahre später geht er in die Hauptstadt Seoul, wo er 1969 das erste mal sein eigenes Geld als Mitherausgeber einer kleinen Zeitschrift verdient, muß aber noch im selben Jahr diese Arbeit aufgrund von Alkoholproblemen aufgeben. Er widmet sich von hier an ausschließlich dem Schreiben und erntet zusehens Erfolg. In Zusammenhang mit der Gründung einer Vereinigung für das Recht der freien Meinungsäußerung von Literaten wird er 1974 erstmals zu einer Haftstrafe verurteilt; weitere Gefängnisaufenthalte folgen in regelmäßigen Abständen (zuletzt 1989 für die Aufnahme von Kontakten zu nordkoreanischen Schriftstellerkollegen). 1975 bekommt er zudem ein einjähriges Publikationsverbot auferlegt. Im folgenden Jahr organisiert Ko ein Kommittee zur Rettung des zum Tode verurteilten Dichters Kim Chi-ha und nimmt aktiv am Arbeitskampf teil. 1980 gründet er eine Arbeiter-Abendschule in Seoul; neuere Gedichte werden mit Publikationsverbot belegt. Als fast Fünfzigjähriger heiratet Ko Ŭn 1983 Yi Sang-hwa; im selben Jahr erscheinen auch seine zweibändigen Gesammelten Gedichte im renommierten Verlag Minŭmsa. Inzwischen liegen über 80 von Ko verfaßte und edierte Bücher vor. Die New York Times beschrieb ihn vor einigen Jahren als "dissident poet" und "first-class craftsman" -- ein erfolgreicher Dissident war und ist Ko zweifellos, ob allerdings auch ein erstklassiger Lyriker, darüber bestehen bei Literatur- kritikern Zweifel. Ko selbst betont dagegen, daß er versuche Alltagssprache in seine Literatur einfließen zu lassen. Von Studenten und Intellektuellen wird Ko Ŭn aber vor allem wegen seines sozialen und politischen Engagements viel gelesen. Einige seiner Liedtexte, z.B. Herbstbrief oder Kleines Schifflein, wurden von so bekannten Chansonniers wie Kim Min-gi und Cho Tong-jin gesungen und waren während der 70er und 80er Jahre wahrhafte Dauerbrenner. Nachdem Ko sich schon 1974 als Hobby-Historiker betätigt hatte und in der Tageszeitung Han'guk ilbo eine Essay-Serie über den koreanischen anti-japanischen Kampf in der südlichen Mandschurei publiziert hatte, sind seine gegenwärtigen Aktivitäten ganz auf die Historiendichtung konzentriert: So edierte Ko 1987 eine Anthologie koreanischer Historiendichtung (betitelt Minjok siga) und gab zwischen 1987 und 1994 sieben Bände seines epischen Gedichtes Paektu-san heraus, das den koreanischen Unabhängigkeitskampf in der Mandschurei von 1900 bis 1940 heroisiert. Übersetzungen aus dem Koreanischen und Nachbemerkung: Frank Hoffmann
PHOTO: Ko Ŭn with Frank Hoffmann, 1987 at the poet's home
Return to Korean Studies Page