Sin Ch'ae-ho
Die große Schlacht der Drachen
1. Miris HerabkunftHerab, herab, der erhabene Miri (ein Drache) stieg herab. Zum Neujahrstag des Mujin-Jahres, so heißt es, stieg Miri vom Himmel nach Ostasien herab.
Die Wellen des Stillen Ozeans tobten.
In der mongolischen Sandwüste war ein Sturm aufgezogen. Bunte Wolken umhüllten den Gipfel des T'aebaeksan. All dies waren Zeichen von Miris Herabkunft.
Als sie den Bericht über Miris Neujahrsankunft hörten, erhoben sämtliche lebende Geschöpfe östlich des Urals gleichzeitig ihre Köpfe. Selbstverständlich ließen Reiche und Adlige zu Miris Gaumenfreuden allerlei Speisen chinesischer und europäischer und sonstiger Küchen der Welt zubereiten. Und um Miris Ohren zu schmeicheln, ließen sie koreanische Harfe, Kayagŭm-Zither, Klavier und allerlei andere Musikinstrumente anstimmen. Nur die erbärmlich gekleideten und Hunger leidenden Armen besaßen nichts, was sie Miri hätten schenken können. So brachten sie ihm als Opfergabe Haut und Fleisch ihrer eigenen Körper.
Aus ihrem Blut brannten sie ihm Schnaps, und aus ihren Tränen bereiteten sie ihm Reiskuchen zu. So warteten sie neben dem prächtigen Altar mit ihren darauf allzu schäbig wirkenden Gaben auf seine Herabkunft.
Am Neujahrstag, beim ersten Hahnenschrei um zwei Uhr morgens näherte sich Miri ohne weitere Ankündigung in seinem Wolkengefährt. Wie üblich sangen und tanzten die Reichen zur Begrüßung des erhabenen Miri, während die Armen alle zusammen einen Kotau machten.
"Oh Herr, oh Herr, unser Gebieter Miri! Bitte erbarme dich unser, auf daß dieses Jahr die Steuerzahlungen nicht zu hoch veranschlagt werden! Bitte erbarme dich unser, auf daß in diesem Jahr nicht zuviel an Pachtreisabgaben von uns gefordert wird! Bitte erbarme dich unser, auf daß wir im neuen Jahr nicht ins Gefängnis müssen! Bitte erbarme dich unser, auf daß sich in diesem Jahr aus Armut niemand vor den Zug wirft! Bitte erbarme dich unser, auf daß dieses Jahr nur wenige Menschen im ganzen Land den Bettelstab nehmen müssen! Bitte erbarme dich unser, auf daß ◯◯◯◯◯◯◯ gedeiht!", so beteten sie den ganzen Tag über.
Doch diese flehenden Stimmen drangen nicht einmal bis zu Miris Ohren, und nur die ärmlichen und unansehnlichen Opfergaben erregten seine Aufmerksamkeit. "Ihr Schurken, die ihr euch nicht mit ganzer Seele aufopfert und nur eurem eigenem Glück nachjagt! Zur Hölle mit euch!", schrie der empörte Miri und sperrte sein Maul auf.
Ach du meine Güte! War dieser Schlund nicht Nolbus Kürbis? Daraus entsprangen eine einen Kotkübel tragende Königliche Hoheit, ein in Rindsleder eingehüllter Generalissimus, ein Reicher mit glatt glänzender Stirn, ein Großgrundbesitzer, den Pfeifenkopf auf dem Rücken baumelnd, Seine Gnaden, der stinkende Herr Polizeiwachtmeister, und andere mehr ...... alle Geisterbeschwörer strömten dort heraus. Kaum waren sie herausgekommen, schon verschlangen sie alle Armen ohne Ausnahme.
Sie preßten ihnen das Blut aus und tranken es, knabberten das Fleisch ab und aßen es, schließlich zerbissen sie knackend selbst die Knochen und fraßen sie. Wollte einer nicht verschlungen werden, bekam er entweder eine Flintenkugel verpaßt oder wurde zum Gefängnisaufseher gemacht. Ach, diese Welt der Hölle! Welch elendes Volk!2. Friedensbankett im Himmelspalast, Angst vor einer Rebellion Die Klagen und das Wutgeschrei der in den Tod getriebenen Völker erschütterten das Neunfache Himmelstor, und so wurde der Himmlische Vater jäh aus seinem tiefen Schlaf gerissen. Er befahl daher seinem Erzengel, ihm mitzuteilen, was das für Geräusche seien. "Das sind die Schreie, die Miri beim Massakrieren der ums Überleben kämpfenden Volksmassen verursacht", meldete Erzengel. "Ah, Miri ist doch wirklich ein weiser Untertan", meinte darauf der Allmächtige. "Wenn das Verlangen ungestüm wird, entsteht Widerstand, und dieser gewaltige Widerstand würde eine Revolte entfachen. Aufbegehrendes Volk muß man daher töten! Ja, Miri ist wahrlich ein scharfsinniger Untertan!" Dann zitierte er Miri herbei, verlieh ihm für das Töten der Volksmengen einen Verdienstorden und erhob ihn in den Adelsrang. Daraufhin ließ er alle Götter des Himmels, alle Totengeister der irdischen Welt und die Monarchen und Premierminister vieler Generationen zusammenrufen und veranstaltete im Himmelspalast ein Friedensbankett.
Die irdischen Völker starben des Hungers, doch die himmlische Festgesellschaft war zum Bersten satt. Der Himmlische Vater faßte sich an den Wanst, wandte sich zu den Geistern und sprach: "Dieses sogenannte Volk hat oft einen angeborenen Hang zur Revolte. Was kann man bloß dagegen unternehmen, daß es schon beim geringsten Anlaß rebelliert? Würden wir im Himmel eine riesige Kanone aufbauen und polternd abfeuern, so würde die gesamte Erde verwüstet und Völker und Rassen würden vernichtet. Danach hätten wir jedoch nur ungenießbar pissiges Blut zu saugen. Das können wir also nicht machen. Schenkten wir den Kerlen aber die Unabhängigkeit, besteht wiederum die Gefahr, daß uns diese freigelassenen Lumpen hinterher ihr Blut nicht mehr saugen lassen. Daher werden wir das auch nicht tun. Wenn wir es irgendwie bewerkstelligten, den Widerstandsgeist der Schurken mit den Wurzeln auszureißen und sie wie Leichen zubereiteten, könnten wir sie dann nicht furchtlos vom Knochenmark bis zu ihren Zehenspitzen zerbeißen und aufessen, sie vom Äußeren bis zum Inneren, vom Vater über die Kinder bis zu den Enkeln, und von diesen Enkeln bis hin zu vielen Generationen von Urenkeln, aussaugen und verspeisen? All ihr Überirdischen, unterbreitet nun jeder für sich einen Plan!"
Da stieß ein Engel hervor: "Ihnen wie den Kühen Nasenring und Zaumzeug anlegen, sie peitschen und zerren ... "
"Hahaha, du Erbärmlicher", verhöhnte ihn der Allmächtige, "sind unsere politischen Gesetze denn nicht noch grausamer als ein Nasenring? Sind Moral und Sittlichkeit etwa nicht noch brutaler als Zaumzeug? Sind etwa die Gewehre und Säbel der Armee nicht viele zehntausend mal schauderhaftere Waffen als eine Peitsche? Und trotz alledem planen diese Halunken eine Revolte!"
Ein anderer schlug vor: "Dann werden wir einen erstklassigen Doktor konsultieren; der wird ein Betäubungsmittel anfertigen, so daß die Kerle für alle Ewigkeit in Narkose fallen. Dann laßt sie uns ergreifen und ohne daß sie es merken verschlingen!"
"Pah! Als wenn ich es mit dieser Droge noch nicht versucht hätte! Den Erzgauner Konfuzius habe ich eine Morallehre konstruieren lassen, die die Leute derart irreführt, daß 'die Armen und Minderbemittelten ihre natürliche Anlage zur Armut ruhig hinzunehmen, den Befehlen der Mächtigen Folge zu leisten und so den Ruhm treuer Vasallen und Patrioten der Nachwelt zu übermitteln' hätten; und mit Hilfe der Spitzbuben Buddha und Jesus gelang es mir sie damit hinters Licht zu führen, daß 'ihre Seelen nach dem Tode in den Himmel oder ins Lotosland kommen, falls sie widerstandslos darüber hinwegsehen, wenn ihnen von anderen Leid zugefügt wird'. Wo sonst noch findet man solche Narkotika? Zweitausend Jahre lang habe ich die großartige Wirkung dieser Mittel gesehen, und jetzt, da sogar die Kraft dieser Drogen aufgebraucht ist, erwachen die Kerle nach und nach, machen Aufstände oder Revolutionen und randalieren herum."
"Da doch in der heutigen Zeit Wissenschaft, Literatur usw. gewaltige Macht haben, sollten wir da nicht eine große Anzahl von Wissenschaftlern und Schriftstellern verführen, sie zu Werkzeugen der Reichen und Adligen — der herrschenden Klasse — machen? Könnten wir die Vorrechte der herrschenden Klasse nicht durch Theorien schützen und ihre Erhabenheit durch Lyrik und Prosa lobpreisen lassen?"
"Oh! Das habe ich gerade erst gemacht, und es scheint einen außergewöhnlichen Erfolg zu haben. Aber diese Gelehrtenkäuze mißachten bisweilen meine Befehle und mischen sich mitten unters Volk. Diese Kerle planen doch eine Revolte!"3. Miri schmiedet Pläne zur Unterdrückung der Volksmassen So war auch Miri wegen des von den Völkern gehegten Rebellionsgeistes gegen den Allmächtigen äußerst beunruhigt. Er seufzte tief und meinte schließlich:
"Wenn es in der irdischen Welt nicht mal einen grandiosen Jahrhundertplan gibt, wie sollte es da im Himmel einen Plan für zehntausend Jahre geben? Wir sollten unsere Zeit lieber mit Weintrinken oder Fleischessen verbringen und uns nicht unnötig solchen Ängsten aussetzen."
Sodann rezitierte er eine Strophe aus dem Sijo der Wunschlosigkeit: "Wenn auch vor und hinter dem Kaiserpalast die Gartenanlagen zerfielen, was macht das? / Wenn auch auf dem Mansu-Berg das Gichtkraut wucherte, was täte das?" Dann trat er vor, machte einen Kotau und erkundigte sich:
"Der Allmächtige ist erhaben, und hundert Millionen Geschöpfe beten ihn an! Warum sprechen Eure Heiligkeit diese unheilverkündenden Worte? Die irdischen Völker tragen zwar die Anlage zur Revolte in sich, aber diese Anlage kann man doch unterdrücken und sie selbst bei lebendigem Leib bis in alle Ewigkeit in diesem Höllenreich schmoren lassen."
Da entgegnete der Allmächtige:
"Ach, lieber Miri, mein mit Weisheit und Heldenmut gleichermaßen beschenktes Juwel, unterbreite mir nun deinen klugen Plan."
"Die Völker der Erde kann man normalerweise in zwei Gruppen teilen", fuhr Miri fort, "zur ersten gehören die Völker der Großmächte und zur zweiten die kolonialisierten Völker. Die Völker der Großmächte verlieren sich in einem trägen Patriotismus und mißverstehen zur gleichen Zeit die Rolle ihres Vaterlandes gegenüber den übrigen Ländern als die der herrschenden Klasse. Sie halten es für patriotisch, durch Expansion die Macht ihres Heimatlandes zu vergrößern. Kurz, ihr Patriotismus ist ein verlogener Patriotismus. Folglich wären sie schon mit unserer Zustimmung zu allgemeinen Wahlen, Lohnerhöhungen und ähnlichem zufriedengestellt. Wenn wir sie die Vorhut der herrschenden Klasse und des Kapitalismus anführen ließen, indem wir ihren falschen Patriotismus anstachelten, um die kleinen und schwachen Länder zu erobern und die Kolonialvölker zu unterdrücken, dann strotzten sie zwar vor Eitelkeit, doch ihr Bauch bliebe leer. Wir könnten jahrzehntelang ihr Blut saugen, ohne daß sie Schmerzen spürten. Und was die kolonialisierten Völker anbetrifft, so ist zwar ihr Leiden tausendfach so groß wie das anderer Völker, doch legen sie stets ihre ganze Hoffnung in ein vorgeschwindeltes Glück. Der Verhungernde träumt vom Glück der Völlerei, der Erfrierende sieht schon den Pelzmantel vor sich, und der dem Tode am Galgen Geweihte glaubt noch, ihm um Haaresbreite entkommen zu können. Demzufolge ist selbst im Falle des Ungehorsams ihr Widerstand nicht allzu heftig. Daher ist nichts leichter als die Überlistung eines kolonialisierten Volkes. Obgleich wir sie all ihrer Rechtsansprüche und Erträge aus Eisenbahn, Bergbau, Fischerei, Forst und Landwirtschaft, sowie Handel und Industrie berauben und immer weiter steigende Steuern einkassieren, können wir sie dennoch mit dem Slogan 'Wir garantieren euer Leben und Wohlergehen!' irreführen. Obwohl wir sie durch Auspeitschung, Folter mit Eisenkeulen, Bambusnadeltortur, Feuermarter, Elektrokaustik, und allen erdenklichen Grausamkeiten wie ... [sechs Silben sind ausgelassen, die Redaktion] und ähnlichem bestrafen und das Militär aufmarschieren lassen, das die Frauen in Stücke reißt, Kinder lebend begräbt, ganze Dörfer niedermetzelt, Getreidelager in Brand steckt und andere schauderhafte Maßnahmen durchführt, können wir sie nichtsdestoweniger durch die Erlaubnis zur Gründung von ein oder zwei Zeitungsverlagen und mit dem Gerede von den 'Wohltaten der Kulturpolitik' übertölpeln. Obschon wir die Anzahl ihrer Schulen weiter reduzieren, bis sie ohne jegliche Bildung sind, ihre Muttersprache verbieten, bis ihr Patriotismus verdorrt, andere Völker einwandern lassen, bis sie als Einheimische keinen Lebensraum mehr haben, Folterungen und Blutbäder veranstalten, bis das ganze Volk zugrunde geht, können wir sie trotzdem mit den aufgeblähten Verwandtschaftsbekundungen über unsere gemeinsame Rasse und Sprache verblenden. Obgleich wir sie Worte wie 'Staatsgründung', 'Revolution', 'Unabhängigkeit' oder 'Freiheit' alle zu vergessen zwingen und sie sich nunmehr weder mündlich noch schriftlich zu äußern wissen, sind sie mit einem Versprechen auf die verdammte Autonomie und das Wahlrecht einfach hinters Licht zu führen. Seht! Sind die jungen Schreiberlinge, die den Ruin ihres Vaterlandes miterleben, nicht stolz auf ihre Welt der billigen Liebesgeschichten, wo sie an den süßen Lippen von Schulmädchen lutschen? Wenn die ihres Vaterlandes beraubten und in ein fernes Land vertriebenen, nun schmarotzenden Männer nur irgend etwas zum Leben gefunden haben, loben sie dann nicht den Komfort ihres zweiten Heimatlandes über alle Maßen? Aufgrund der Tendenzen in der Kommunistischen Partei laufen die Unabhängigkeitstruppen davon, und bei dem Theater der Bettlerregierung reißt dem Präsidenten der Bettelsack ab. Seien Sie ganz ohne Sorge, Eure Heiligkeit, denn das Überlisten der kolonialisierten Völker stellt kein Problem dar. Um das Selbstbewußtsein der Volksmassen zu erwecken, bräuchten diese Völker mehr Zeit als alle anderen Völker der Welt. Daher werden wir die Völker der Kolonien noch jahrzehntelang sorglos verspeisen können."
"Mein lieber Junge! Du bist ja noch ausgekochter als ich selbst! Wenn du nicht wärst, wie sollte ich da meine Stellung bewahren?" sprach der Allmächtige und klopfte Miri dabei auf die Schulter.4. Jesus' grausames Ende ohne Hoffnung auf Auferstehung "Dragon ist gekommen, Dragon ist gekommen. Nun sind die Tage des Himmelreiches gezählt."
Ah, was war denn das für ein Lärm? Woher kamen diese Stimmen? Der Allmächtige lauschte gerade Miris Worten und erquickte sich hieran ganz köstlich, als er jene Stimmen vernahm. Er befahl schnellstens herauszufinden, was dieses Geschrei zu bedeuten habe und stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. Ehrerbietig schwärmten die Miri unterstellten Dämonen in alle Windrichtungen auf Kundschaft aus — doch vergebens, sie konnten nichts entdecken.
"Dragon ist gekommen, Dragon ist gekommen. Nun sind die Tage des Himmelreiches gezählt." Wie Donnerschläge erschollen von irgendwo her diese Stimmen; Wände, Decken, Tore, Fenster, Pfeiler, Fußböden, der ganze Palast erbebte bis auf die Grundsteine. Der Allmächtige ließ den Swa4kyamuni-Buddha aus Indien herbeirufen und ihn Zauberformeln und Mantras rezitieren, aber die Stimmen wurden nur noch lauter, und der ganze Himmelspalast vibrierte um so mehr. Da überkam den Himmlischen Vater eine große Beklommenheit; er ließ das Bankett abbrechen und alle Dämonen auf ihre Plätze zurückkehren. Die ganze Nacht hindurch schwelgte er mit seinen Hofdamen, doch sein trockener Mund verriet seine große Angst.
Ist das nicht aufsehenerregend? Mit den Rufen "Extrablatt! Extrablatt! Kaufen sie ein Extrablatt!" wurden bei Morgengrauen in der Himmelshauptstadt Hunderttausende von Dämonen aus dem Schlaf gerissen. Erzengel kaufte ein Exemplar auf dem Weg zur Morgenaudienz des Allmächtigen. Es handelte sich um eine Sonderausgabe der in der Himmelshauptstadt publizierten, schon vor dreihunderttausend Jahren gegründeten Zeitung Himmlische Nachrichten.
Auf der Titelseite war ein Sonderbericht abgedruckt, über dem in riesengroßen Lettern stand: "Jesus Christus, einziger Sohn des Allmächtigen, fand grauenhaftes Ende", und darunter in etwas kleinerer Schrift: "Von Dragon angestiftet". Der Inhalt des Artikels lautete wie folgt:
"Als Jesus Christus, der einzige Sohn des Allmächtigen, in einer Dorfkirche des ◯◯◯◯-Gebietes eine Rede über die Lehren seines Vaters hielt, traten und schlugen ihn ortsansässige Bauern; sie beschimpften ihn: 'Du Schuft! Du hast uns in deines Vaters Namen tausendneunhundert Jahre lang betrogen. Warum also willst du uns heute schon wieder für dumm verkaufen? Was hast du denn mit dem Blut getan, das du unserem Volk diese tausendneunhundert Jahre lang abgepreßt hast?' Und weiter: 'Warum mußtest du denn auch noch bis zu uns in den Fernen Osten kommen, nachdem du doch im Abendland schon so viele Menschen betrogen hast?' Und dann: 'Sollen wir dich noch mal die Nägel fühlen lassen, ganz wie an jenem Tag am Kreuz in Jerusalem?' Schließlich, so hieß es, droschen die Bauern mit ihren Hacken brutal auf Jesus Christus ein und zerhackten seinen Körper bis zur Unkenntlichkeit, so daß nunmehr keine Hoffnung auf Auferstehung besteht. Man sagt auch, daß zwar das Volk an Jesus Christus' tragischem Tod schuld sei, daß aber Dragon das Volk dazu angestiftet habe. Die Identität des mysteriösen Dragon ist noch immer ungeklärt. Vor einigen Tagen ist er in der Gegend aufgetaucht und verunglimpfte den Allmächtigen als einen 'blutrünstigen, stinkenden Teufel'; Jesus Christus schalt er 'einen an Verschlagenheit seinen Vater noch übertreffenden Schurken'. Er ging sogar soweit, ein Manifest mit neunzig Artikeln über die Missetaten des Himmlischen Vaters und seines Sohnes in Umlauf zu bringen und nutzte noch am selben Tag die Gelegenheit von Jesus' Besuch, um die Volksanführer zu dieser grausamen Bluttat aufzuhetzen."
Im darunter stehenden Kommentar des Extrablattes, betitelt "Jesus Christus ohne Hoffnung auf Auferstehung", hieß es: "Jesus Christus, der zweifellos ebenso heimtückisch und listig war wie sein Vater, war das leibhaftige Ebenbild des Allmächtigen. Er begann gleich nach seiner Geburt die Lehren seines Himmlischen Vaters zu verbreiten und wurde von den Juden in Jerusalem gefangengenommen, als er gerade dreißig Jahre alt war. Da die damaligen Juden allerdings ausgesprochene Tölpel waren, ließen sie ihn wieder entwischen. Das Kreuz auf dem Rücken schleppend konnte er sich der 'Auferstehung' rühmen und die von ihm derart überlisteten Völker Europas zu seiner Lehre bekehren. Er spornte die Kreuzritter zu 'Kreuzzügen' an und verursachte Kriege wie den 'Dreißigjährigen Krieg', um dem gewöhnlichen Volk die Kniffe zu lehren, wie es seinesgleichen morden könne. Lange betrog er die kolonialisierten oder armen Völker mit solch verlogenen Sprüchen wie 'Selig sind die Leidtragenden, selig sind die Armen', ließ sie ihre wirklichen Feinde vergessen und sich ein falsches Himmelreich erträumen. Dadurch konnte er Machthaber und Diktatoren immer mit allem Komfort versehen. Seine heiligen Tugenden wie seine göttliche Gnade waren so überwältigend, daß es seit alters her die Geschichtsbücher nicht vermochten, sie vollständig aufzuzeichnen. Aber diesmal ist er nicht nur grausam ermordet worden, diesmal schlossen sich die aufgeklärten Volksmassen mit der unchristlichen Jugend zusammen und töteten ihn mit Feder und Schwert. Jesus kann nun nicht mehr auferstehen; sein tragischer Tod bleibt eine unwiderrufliche Tatsache. Nicht nur der hochbetagte Himmlische Vater, der den entgültigen Tod seines Sohnes mit ansehen mußte, befindet sich in einer äußerst miserablen Verfassung, auch für die Christen stellt sich die Frage, in wessen Namen sie von jetzt an beten sollen ... "
Erzengel, noch bleicher als die mitgebrachte Zeitung, eilte in den Himmelspalast; mit zitternden Händen überreichte er dem Allmächtigen die Extraausgabe.5. Miri und Dragon, Zwillinge unterschiedlichen Charakters Nachdem der Allmächtige das Extrablatt betrachtet hatte, starrte er wie von Sinnen den geistesabwesend vor ihm stehenden Erzengel an und fiel sogleich vorn über auf den Tisch. "Eure Hoheit!", schrie Erzengel erregt und half dem Allmächtigen auf, "jetzt, wo es um so ernste Angelegenheiten wie das Sein oder Nichtsein des Himmelreiches geht, sollten da Seine Heiligkeit nicht besser einen kühlen Kopf bewahren?" Als Erzengel den Allmächtigen etwas besänftigt hatte, kamen Miri sowie alle ihm unterstehenden Dämonengeneräle und Dämonenobersten der Reihe nach herein, um dem Himmlischen Vater ihren Kondolenzbesuch abzustatten.
Als Erzengel Miri erblickte, ging er vor Wut in die Luft und schrie mit knallrotem Kopf: "Miri, du Lump! Bist du nicht die Güllegrube des Fernen Ostens? Wie konntest du nur zulassen, daß das Volk verführt wird ein so unaussprechlich schreckliches Verbrechen zu begehen! — Des Allmächtigen einziger Sohn Jesus Christus ist nun verdammt auf ewig unter den Toten zu weilen. Du Schuft willst wohl deinen Kopf verlieren? ... "
So schalt er Miri und schlug dabei mit geballter Faust gegen die Palastwand. Miri schwieg und litt mit der Miene eines Stummen. In diesem Augenblick erschollen wieder die Stimmen, und der Himmelspalast erbebte.
"Er ist da, er ist da! Dragon ist gekommen. Nun sind die Tage des Himmelreiches gezählt." Erzengel unterbrach schlagartig seine Standpauke, und Miri rollte bloß die Augen.
Da sprang der ohnmächtig zusammengebrochene Allmächtige vom Tisch auf und befahl in scharfem Ton:
"Dragon, Dragon, Mörder meines Sohnes! Fangt den Kerl und bringt ihn her!"
Mit großem Tamtam schwärmten daraufhin die Polizeikommandos und Spähtrupps der Himmelshauptstadt aus. "Er ist gekommen, Dragon ist gekommen", so hallte es aus allen Richtungen, aber nicht mal ein Schatten von Dragons wahrhaftiger Gestalt wurde erblickt.
Zusätzlich zu den aufwendigen, wiewohl nutzlosen Aktivitäten der hauptstädtischen Polizeikommandos und Spähtrupps wurden anderentags Dragons Foto und Lebenslauf in der Bürgerzeitung, der einzigen Zeitung aller irdischen Völker in Ost und West, publiziert. Doch auf der "Porträt Dragons" überschriebenen Seite fand sich bloß eine große Anzahl des Zeichens ◯. Eine Erklärung hierzu wurde in kleinformatigen Lettern links daneben abgedruckt. Sie lautete wie folgt:
"Vor der vollständigen Zerstörung des Himmelreiches wird Dragons wahre Gestalt lediglich durch das Zeichen ◯ dargestellt. Allerdings unterscheidet sich Dragons ◯ vom mathematischen ◯. Während, mathematisch gesprochen, ◯ addiert zu ◯ wieder nur ◯ ergibt, kann Dragons ◯ Zahlen von 1, 2, 3 oder 4 bis hin zu Werten wie 10, 100, 1000, 10 000 und darüber hinaus bedeuten. Mathematisch gesprochen hat ◯ zwar eine Funktion, aber keinen Wert, wohingegen Dragons ◯ auch Gewehre, Schwerter, Feuer, Blitzeinschläge und andere Arten von 'Terror' bedeuten kann. Heute wird Dragon nur durch das Zeichen ◯ repräsentiert, aber morgen werden seine Erbfeinde ebenso wie das Himmelreich, die Kaiserreiche, die Kapitalisten und jede andere Art der Herrschaftsmacht sich in ◯ auflösen. Wenn die Zeit gekommen ist, daß alle Herrschaftsmacht ◯ und nichtig geworden ist, werden wir Dragons wirkliche Aufbauleistung mit unseren eigenen Augen sehen."
Des weiteren fand sich unter der Überschrift "Dragons Lebenslauf" folgender Artikel in der Zeitung: "Wer ist Dragon? Als vor undenkbar langer Zeit der Allmächtige, bedacht mit den Huldigungen der abergläubischen Erdenvölker, den Thron des Reiches bestieg, geschah es, daß im fünften Jahr seiner Regierung zwei eineiige Ungeheuer, genährt von ein und derselben Nabelschnur, in den Lüften zur Welt kamen. Das erste ist Dragon, und das zweite ist niemand anderes als der heutzutage als Chef der Leibgarde des Himmelspalastes wie als Generalgouverneur des Morgenlandes gleichwohl berühmt gewordene Miri. Das chinesische Schriftzeichen zur Bezeichnung Miris wie auch Dragons ist beidemal 龍, das Zeichen für 'Drache'. Miri wuchs in solchen Ländern wie Korea, Indien und China auf und wurde schließlich zum Drachen des Ostens, der durch Lehrer wie Buddha und Konfuzius zur Passivität erzogen wurde und sich zu einem treuen Untertan des Allmächtigen entwickelte. Von Natur aus ein folgsamer Stiefellecker und Scherge der herrschenden Klasse, priesen ihn Priester und Moralapostel der irdischen Welt als eine vorbildliche Gottheit an. Der Drache findet sich daher nicht nur in den Mythen Koreas, sondern auch in den konfuzianischen Lehrtexten Chinas und den buddhistischen Sutra-Rollen Indiens verherrlicht. Folglich wurde er zum Mitstreiter des Allmächtigen, welcher ihn beförderte und mit der Mission für die militärische Sicherheit des Ostens betraute. Dragon dagegen wuchs an Orten wie Griechenland und Rom auf. Er wurde schließlich zum Drachen des Westens, der mit Aufrührern und Revolutionären verkehrte, sich an solchem Unfug wie 'Revolution' oder 'Zerstörung' ergötzte und sich nicht von Religion oder Moral binden ließ. In der abendländischen Geschichte wurden daher Rebellengruppen und Aufstände zu allen Zeiten oft mit dem Beinamen Drachen bedacht.
Neuerdings hängt Dragon auch dem Nihilismus an und führt darüber hinaus ungestüme, revolutionäre Aktionen durch. Schließlich ist es sogar zu dem grausamen Mord an Jesus Christus gekommen."
Die Angehörigen des Himmelspalastes waren nicht wenig schockiert, nachdem sie in der Zeitung gelesen hatten, daß Miri und Dragon im Grunde Brüder waren.6. Gründung von Globusland und Panik im Himmelreich Obwohl Miri als Günstling des Allmächtigen im Amt des Generalgouverneurs Ostasiens Jahrtausende lang eine schwere Verantwortung getragen hatte, kamen im Himmelspalast doch Zweifel an seiner Integrität auf. Die kürzlich ausgebrochene Rebellion und Dragons grausamer Mord an dem Lieblingssohn des Allmächtigen fanden schließlich im Verwaltungsgebiet Miris statt, der, wie selbst die Zeitung des irdischen Volkes berichtete, ein leiblicher Bruder Dragons ist. Auch der Allmächtige geriet außer sich vor Zorn.
Folglich wurde Miri seines Amtes als Generalgouverneur Ostasiens enthoben und Erzengel als solcher eingesetzt. Noch am selben Tag trat dieser sein Amt an und erhielt den strikten Befehl Dragon festzunehmen und die Rebellen niederzumetzeln.
Erzengel nahm die Instruktionen entgegen, bezeugte auf den Stufen der Thronhalle seinen Dank für die ihm erwiesene Gunst und war schon im Begriff zu gehen, als ein Bote ganz außer Atem herbeistürmte und dem Allmächtigen einen Bericht von der irdischen Welt übergab. Die Mitteilung besagte, daß die ◯◯-Leute kurz nach dem Mord an Jesus Christus auch andere Religionsstifter und Sittenrichter wie Konfuzius, Buddha und Mohammed totgeschlagen, Schulen für Staatskunst und Jurisprudenz sowie Lehr- und alle anderen Bücher, welche die Vorrechte der Herrschenden schützten, verbrannt, Gotteshäuser, Regierungsgebäude, Behörden, Banken, Firmen und andere gleichartige Gebäude verwüstet und dem bisherigen Gesellschaftssystem eine völlige Absage erteilt hatten. Die irdische Schöpfung hatten sie zum öffentlichen Eigentum der Massen erklärt.
Um das rebellierende Volk zu überwältigen, ließ die herrschende Klasse das Militär aufmarschieren; da aber auch die Soldaten aus dem Volk stammten, desertierten sie und liefen auf die Seite des Volkes über. Trotz einer ungewöhnlich hohen Rekrutierungssumme wurde nicht ein einziger Mann als Soldat angeworben. Von den in unglaublicher Anzahl aufgebotenen Gebirgs-, Feld- und Schnellfeuergeschützen konnte daher kein einziger Schuß abfeuert werden.
Die Angehörigen der herrschenden Klasse wollten nun selbst in die Schlacht ziehen, waren aber den Volksmassen der Zahl nach bei weitem unterlegen und fühlten sich außerdem gedemütigt bei dem Gedanken ihr Geld, ihre Mätressen und ihren ganzen Besitz beim Tod auf dem Schlachtfeld zurückzulassen. So flohen alle in eine Festungsanlage, wo sie vom Volk belagert wurden und schließlich Hungers starben. Jeder von ihnen starb mit Bargeld im Werte von durchschnittlich einer Million Wŏn in Händen. Wie es hieß, gaben die Völker nach dem Fall der herrschenden Klasse der gesamten Erde den Namen Globusland und erklärten den Abbruch der Beziehungen zum Himmel-reich.
Von allen anderen Vorfällen abgesehen war es die Phrase vom "Abbruch der Beziehungen zum Himmelreich", die dem Himmlischen Vater den größten Schrecken einjagte. Warum? Weil der Himmlische Vater, die Engel und die Geister des Himmelreiches ohne jegliche Anstrengung Tausende von Jahren von den Opfergaben gelebt haben, die sie aus der irdischen Welt abgeschöpft hatten.
Jetzt, da die Völker Globusland gegründet und den Abbruch der Beziehungen erklärt hatten, würden die Geister keine Opfergaben mehr bekommen. Ihnen allen würde nichts anderes übrig bleiben als zu verhungern. Auch der Himmlische Vater würde des Hungers sterben müssen.
Der Allmächtige ließ den Bericht unter den Geistern verbreiten. Diese wurden daraufhin furchtbar zornig und ersuchten ihn noch am selben Tag den Befehl zu erteilen, das gesamte Volk von Globusland zu massakrieren. Doch der Allmächtige schüttelte nur den Kopf.
"Solange das Volk an uns glaubte, waren wir mächtig, aber welche Macht haben wir denn jetzt noch? Wir sind machtlos, und so wird das Volk uns abschlachten, bevor wir das Volk abschlachten können; das Volk massakrieren? — was für ein Blödsinn!"
Da war die Flamme ihrer Entrüstung plötzlich wie ausgeblasen, und sie schlugen dem Allmächtigen vor:
"In diesem Fall könnte ein Bote nach Globusland gesandt werden, der dem Volk eine Mitteilung mit der dringenden Bitte um Normalisierung der Beziehungen und Leistung von Opfergaben überbrächte."
Doch der im Umgang mit den Menschen und deren Leben erfahrene Himmlische Vater mißbilligte den Vorschlag und meinte, daß solch nutzloses und schädliches Gerede von Opfergaben das Volk bloß noch mehr verärgern würde.
"Was sollen wir denn dann tun? Hier sitzen und verhungern?"
Der Allmächtige verstummte für eine ganze Weile.
"Wir haben jetzt keine andere Wahl. Es muß sogleich ein Bote zum Volk gesandt werden, der für jeden von uns Himmelreichbewohnern ein Bettelschälchen erbetet."
"Was sollen wir denn mit Bettelschälchen?"
"Wir können nichts machen", entgegnete der Allmächtige mit Tränen in den Augen, "außer mit unseren Bettelschälchen Tag für Tag an die Türen der Leute zu klopfen und ... Großväterchen, haben Sie nicht Speise und Trank für ... ?"
Seine Kehle war wie zugeschnürt und er konnte nicht weiter sprechen.
"Wie kann das sein ... wir sollen ... und selbst Seine Heiligkeit ... ", stammelten verwirrt die Dämonen. Die Harfenklänge der Feen waren längst verklungen und Klagelaute ließen den Himmelspalast vibrieren. Aber wenn sie auch heute und morgen und 365 Tage lang Tränen vergossen hätten, was für einen Zweck hätte das schon gehabt? Letztendlich verstummte das Gejammer und der Vorschlag mit der Bitte um Bettelschälchen wurde angenommen.7. Miris Feldzug und des Allmächtigen Sorgen "Also, wen sollen wir als Bittboten wegen der Bettelschälchen schicken?", wandte sich der Himmlische Vater an seine Geisterschar.
"Dafür ist Miri am besten geeignet", entgegnete Erzengel. "Wie Ihrer Heiligkeit untertänigster Diener gestern erfuhr, ist das Volk bisher nicht allzu sehr gegen das Himmelreich eingestellt, doch geistert unser Erzfeind Dragon in den Köpfen des Volkes umher und behauptet, die Macht des Allmächtigen und der ihm untergebenen herrschenden Klasse auf der Erde existiere lediglich aufgrund der Billigung des Volkes, und wenn nur das Volk sie ignoriere, flöge ihre ganze Macht davon wie welke Blätter im Herbstwind. Man sagt, das Volk vertraue Dragon heute mehr, als es zuvor Eurer Heiligkeit vertraut habe. Falls Dragon seine Zustimmung gibt, wird das Volk wohl bereit sein, jedem von uns ein Bettelschälchen zu geben. Da Miri der leibliche Bruder Dragons ist, wird es nicht so schwer sein Dragons Zustimmung zu erhalten, wenn wir ihn schicken."
"Richtig!", stimmte ihm der Himmlische Vater zu und ließ Miri sogleich aus dem Gefängnis herbeibringen. "Wie konnte ich nur so unvernünftig sein", sagte er mit Tränen in den Augen, während er Miris Hand ergriff, "und einen so weisen Untertan wie dich nahezu dem Tode überantworten!" Dann legte er Miri den zuvor gefaßten Beschluß im einzelnen dar.
"Nein, nein!", wandte Miri ein. "Tut das auf keinen Fall. Bettelschälchen gehören zu Bettlern und nicht zu Eurer Heiligkeit. Wenn ein Bettler von Tür zu Tür zieht, dann geben ihm die Leute aus Mitleid etwas zu essen. Wenn indes Eure Heiligkeit ein Bettelschälchen bei sich tragen, wird das Volk mit Fingern auf Euch zeigen und lästern: 'He, Eure bettelnde Heiligkeit, wo ist denn deine einstige Würde geblieben? Spei mal das Blut wieder aus, das du uns früher abgepreßt hast!' Sie werden Eure Heiligkeit verprügeln und Euer Bettelschälchen zerbrechen. Dann werden sie, wenn Euer untertänigster Diener das sagen darf, Eurer Heiligkeit den Schädel ... nein, nein, das darf nicht sein." Und in Tränen aufgelöst bat Miri: "Unter keinen Umständen dürft Ihr sie um Bettelschälchen bitten."
"Was soll ich denn dann tun?", fragte der Allmächtige. "Ich wäre ja bereit Selbstmord zu begehen, indem ich mich vor einen Zug würfe, aber wo gibt es denn hier im Himmelspalast eine Eisenbahn? Und zum Tode durch das Schwert kann ich mich nicht überwinden."
"Wenn Seiner Heiligkeit ergebener Diener nur einmal den Mund aufmacht, dann kommen Kaiser, Präsidenten, Kapitalisten und noch mehr solcher Figuren herausgesprungen. Laßt mich als Euren Diener nach Globusland hinabsteigen und meinen Mund auftun."
"Kaiser, Präsidenten, Kapitalisten — die sind doch heutzutage alle nichts weiter als Katzendreck, mit denen kann man dem Volk keine Angst mehr einjagen. Diese Zeiten sind vorbei."
"Eurer Hoheit untertänigster Diener wird den Patriotismus der Großmachtvölker anstacheln, die ihre Kolonien ausbeuten, und die kolonialisierten Völker mit dem Versprechen auf Autonomie und Wahlrecht hinters Licht führen. Während der dann entstehenden Auseinandersetzungen haben wir die Gelegenheit unsere Privilegien wiederzuerlangen."
"Meinst du wirklich die selbstbewußten Völker immer noch mit den gleichen alten Versuchungen verführen zu können?"
"Aber es ist doch ganz unmöglich, daß Eure Heiligkeit mit einem Schälchen Betteln geht. Als Euer ergebener Diener werde ich auf jeden Fall nach Globusland hinabsteigen und mir in eigener Person ein Bild von der tatsächlichen Lage der Dinge machen. Wenn es den Kampf wert ist, werde ich kämpfen, und wenn nicht, werden wir im Himmelreich alle solidarisch zusammenhalten, und selbst wenn wir des Hungers sterben, so werden wir doch nicht Betteln gehen."
Nachdem Miri seine Rede beendet hatte, verabschiedete er sich sogleich vom Allmächtigen, bestieg eine Wolke und nahm Kurs auf Globusland. Der Himmlische Vater, Erzengel und die ihm unterstellten Himmelsbeamte, Himmelsdiener, Feen sowie die ganze himmlische Heerschar begleiteten ihn bis in die Wolken und riefen ihm, sich an den Händen haltend, im Chor nach: "Lange lebe unser hochgeehrter Miri!" Miri, der das Schicksal des Himmelreiches auf seinen Schultern trug, empfand diese Stimmen als Jubelrufe. "Gestern noch war ich im Himmel der Bösewicht Miri, auf der Erde der hochgeehrte Miri, und heute bin ich im Himmel der hochgeehrte Miri, auf der Erde der Bösewicht Miri ... wie sich die Weltlage doch gewandelt hat!", dachte Miri bei sich, und Tränen rannen ihm über beide Wangen. Auf halbem Weg zwischen Himmel und Erde war ihm der ganz außer Atem gekommene Erzengel nachgefolgt, der ihn aufforderte: "Lieber Miri, du mögest bitte nochmals zurückzukehren. Der Himmlische Vater möchte noch ein Wort an dich richten." Noch während Erzengel sprach, hatte sich Miri bereits auf den Rückweg zum Allmächtigen gemacht.
"Heute sind die Volksmassen so aufgebracht, daß du keine Gewalt anwenden darfst. Auf jeden Fall solltest Du an ihre Gefühle appellieren. Dies sind vielleicht meine letzten Worte an dich, falls...", riet der Allmächtige und drückte ganz fest Miris Hand.
"Ja, Eure Hoheit brauchen sich keine allzu großen Sorgen zu machen. Ich werde als Euer ergebener Diener nach Globusland reisen und dort alle Angelegenheiten nur nach reiflicher Überlegung und sorgfältiger Prüfung erledigen."
So sprach Miri und schwebte flugs wieder auf seinem Wolkengefährt von dannen.8. Großer Aufruhr im Himmelspalast, Allmächtiger von Sturm hinweggefegt Nach der Verabschiedung Miris versammelte sich der Allmächtige mit seinem Hofstaat und allseitig erscholl ein lautes Wehklagen. Es war aber nicht Miris Fortgang, sondern der Zusammenbruch des Himmelreiches, weshalb sie solch bittere Tränen vergossen. Doch im Grunde jammerten sie nicht wegen des Zusammenbruchs des Himmelreiches, sondern um ihres persönlichen Unglücks willen.
Am entsetzlichsten von allen schluchzte Kkokku, die Lieblingsfee des Himmlischen Vaters. Der Allmächtige war so gerührt, daß sein eigenes Wehklagen stockte und er die Ohren spitzte, um Kkokkus Stimme zu hören. Doch sie weinte überhaupt nicht, sondern wisperte immerzu:
"Er ist da, er ist da! Dragon ist gekommen. Nun sind die Tage des Himmelreiches gezählt."
"Du Dirne!", brüllte er. "Dir wär's wohl ganz recht, wenn Dragon kommt, was?"
Dann zog er sein Schwert und enthauptete sie. Ach! Ärmste Kkokku, bums fällt ihr Kopf zu Boden und aus ist's. Nachdem der Himmlische Vater Kkokku getötet hatte, versuchte er die Stimmen der anderen "Dirnen" und "Schufte" zu verstehen. Sie alle wisperten genau wie Kkokku:
"Er ist da, er ist da! Dragon ist gekommen. Nun sind die Tage des Himmelreiches gezählt."
"Oh weh! Was ist denn jetzt los?", schrie der Allmächtige, "haben mich denn alle Angehörigen des Palastes hintergangen und sind auf die Seite Dragons übergelaufen?" Dann hielt er inne, um seinem eigenen Weinen zu lauschen, aber auch er selbst weinte nicht, sondern murmelte: "Er ist da, er ist da! Dragon ist gekommen. Nun sind die Tage des Himmelreiches gezählt." Da blieb dem Allmächtigen nichts anderes übrig als mit seinem Weinen aufzuhören und den grausamen Befehl zu erteilen jeden hinzurichten, der im Himmelspalast weint.
"Warum habe ich nur meine zeitlebens ach so geliebte Kkokku getötet? Warum gibt es noch keine Nachricht von Miri? Was wird aus mir, wenn das Himmelreich untergeht?" Von ständigen Gewissensbissen und Melancholie gequält, bekam der Allmächtige schließlich unerträgliche Kopfschmerzen. Seinen Kopf mit der Hand haltend ging er in die Krankenstation um Schmerztabletten zu holen — doch wie seltsam! Keine Seele war hier und dennoch diese grellen Stimmen: "Er ist da, er ist da! Dragon ist gekommen. Nun sind die Tage des Himmelreiches gezählt."
Das kam dem Himmlischen Vater äußerst mysteriös vor; vorsichtig sah er sich im Raum um und stellte fest, daß die Stimmen aus einer Phiole mit Salpetersäure kamen. Er zückte zornig sein Schwert, um das Gefäß zu zerschmettern, doch da war die Salpetersäure plötzlich verschwunden und ein brennendes, Funken sprühendes Schwert tauchte auf. Von den Grundsteinen über die Stützbalken und Säulen bis hin zum Dach zerschlug es den ganzen Palast — knacks! — krach! — bums! — dröhnend stürzte alles zusammen — und der Himmelspalast ging in Flammen auf.
Der Himmlische Vater rief den Gott des Regens herbei, aber nicht er, sondern der Gott der Winde kam mit einem kräftigen Sturm, der das Feuer nur noch mehr anfachte und sowohl den Himmelspalast als auch die gesamte Himmelshauptstadt vernichtete. Wer kann schon gegen den Strom schwimmen? Hilflos floh der Allmächtige durch das Palasttor, um dem Feuer auszuweichen, da erfaßte ihn der sausende Sturm und trug ihn irgendwohin mit fort.
Der Sturm tobte so stark, daß Erzengel dem Himmlischen Vater nicht zu helfen wußte und nur ausrief:
"Nun ist der letzte Tag des Himmelreiches tatsächlich gekommen!"
Doch wie könnte Erzengel als treuer Diener des Himmlischen Vaters im Strom der Zeit mitschwimmen! Ob auf, ob nieder, er würde dem Allmächtigen folgen. "Wo auch immer er sein mag, ob im Himmel oder auf Erden, ich werde den Allmächtigen unter allen Umständen ausfindig machen." Und so rüstete er sich wie ein koreanischer Wandersmann mit Strohsandalen aus, kleidete sich wie ein chinesischer Kuli und reiste in alle acht Windrichtungen durch die Welt, um den Aufenthaltsort des Allmächtigen aufzuspüren.9. Erzengels Bettelei und der Orakelspruch des Taoisten "Um den Allmächtigen zu finden, werde ich zunächst versuchen ins Abendland zu gehen, wo man schon immer gern nach dem allwissenden und allmächtigen Himmlischen Vater gesucht hat", dachte sich Erzengel und besuchte so berühmte Städte wie London, Paris, Rom, Berlin und New York.
Doch kein einziger Priester, Pastor oder anderer Geistlicher kam ihm unter die Augen, und solche Wörter wie Kaiser, Präsident oder Premierminister waren auch nicht mehr zu hören. Ebensowenig sah er Gebäude von Banken, Firmen oder Kartellen, und selbst die Sitten und Bräuche hatten sich völlig gewandelt. Da er aber den Allmächtigen finden mußte, warf er auf all diese Dinge nur einen flüchtigen Blick und so blieben ihm die tatsächlichen Verhältnisse verborgen. In Jerusalem traf er den Apostel Paulus und dachte bei sich: "Da Paulus ein frommer Anhänger des Himmlischen Vaters ist, wird er wohl den Aufenthaltsort des Allmächtigen kennen." Also fragte er ihn:
"Mein lieber Paulus, wo hält sich der Himmlische Vater auf?"
"Du Narr! Du armer Irrer suchst selbst jetzt noch nach dem Allmächtigen!" Dabei kniff er Erzengel kräftig in die Wange, die sofort stark anschwoll, woraufhin dieser schleunigst Fersengeld gab.
In Beijing angekommen, wanderte er etwa zehn li außerhalb des Zhengyang-Tores zu dem von einem Pinienhain umgebenen Himmelsaltar, wo sich zahlreiche Zaungäste versammelt hatten, die zusahen, wie der Kaiser der großen Qing-Dynastie mit Krone und in voller Robe die Zeremonie des Himmelsopfers vollzog.
"Wie schön! Trotz allem ist China ein glorreiches Land, das die Monarchie restauriert und die Zeremonie des Himmelsopfers wieder eingeführt hat", sagte Erzengel zu sich selbst. Er drängte sich durch die Menge und machte Anstalten nach dem Himmlischen Vater zu suchen, als einer der Zuschauer ihn aufhielt und anschrie:
"Du Banause! Was bist du bloß für eine Schlafmütze! Das ist eines der Schauspiele aus Anlaß unseres nationalen Volksfeiertages. Was für ein Hosenscheißer ist denn dein Himmlischer Vater?" Damit nicht genug, langte er Erzengel noch eine kräftige Ohrfeige. Oh weh! Kein Tag verging dem treuen Untertan ohne sich eine geschwollene Wange einzuhandeln.
Seine schmerzende Wange haltend, strebte Erzengel von Himmelsbrücke und Himmelsaltar weg nach Westen, als er am Wege einen alten Taoisten mit Priesterkappe entdeckte, der Orakelstäbchen legte. Auf sein Tischchen waren Zettel geklebt, worauf in acht großen chinesischen Schriftzeichen geschrieben stand: "Schriftliche Antwort auf Ihre Fragen für nur zehn Taler".
"Was für ein seltsamer Alter dieser taoistische Priester doch ist", dachte sich Erzengel, "bis zum heutigen Tage ließ er sich die Haare nicht schneiden und setzt noch all sein Vertrauen in Fu Xis acht Diagramme. Wenn ich ihm nur zehn Kupferstücke als Honorar gebe, werde ich den Aufenthaltsort des Allmächtigen erfahren", und er durchstöberte seine Geldbörse. Allein, seine Geldbörse gähnte vor Leere. "Kein Heller ist mir geblieben, geschweige denn zehn Kupferstücke." In dieser mißlichen Lage konnte selbst Erzengel seine Tränen nicht mehr zurückhalten. "Bevor Dragon auftauchte, als ich noch als Kammerherr des Allmächtigen diente, fand ich jeder Zeit Diamanten, Rubine, Platin, Gold, amerikanische Dollars, französische Francs und chinesische Yuan, wenn ich mir nur einmal in die Tasche griff. Heutzutage finde ich in meiner Börse nicht mal mehr zehn Kupfermünzen ... "
Da er aber den brennenden Wunsch hatte, sich wahrsagen zu lassen, setzte er eine freundliche Miene auf, verbeugte sich und fragte den Alten:
"Ehrwürdiger Weiser, bitte prophezeit mir. Gegenwärtig habe ich kein Geld, aber eines Tages werde ich Euch als Honorar tausend, ja zehntausend Goldmünzen geben."
"Kein Problem. Dieser Tage ist Geld überflüssig, aber weil ich diesen alten Brauch nicht vergessen habe, verlange ich zum Spaß Geld. Machen Sie sich keine Sorge wegen des Honorars. Ich werde für Sie wahrsagen. Also, was möchten Sie wissen?"
"Wenn ich den Allmächtigen erwähne", dachte Erzengel, "könnte ich mir noch eine Ohrfeige einfangen." Er zögerte eine Weile und sagte dann:
"Ja, ich habe keinen anderen Wunsch als meinen Herrn und Meister zu finden. Ich weiß gar nicht, wo er ... "
"Hahaha", lachte der alte Priester, "daß selbst in der heutigen Welt noch jemand seinen Herrn und Meister sucht. Sie sind ja ein ganz treuer Diener." Dann schüttelte er die Schachtel mit den Orakelstäbchen und zog einige heraus.
"Oh — oh je", stotterte er verblüfft, "das ist das Zeichen für Himmel, also den Himmlischen Vater, und dieses steht für Flucht. Sie scheinen kein Diener zu sein, der seinen Herrn und Meister sucht, sondern Erzengel, der auf der Suche nach dem entflohenen Himmlischen Vater ist."
Erzengel war mehr als überrascht dies zu hören und machte daher brav einen Kniefall vor dem Alten.
"Bitte sagt mir, wo der Allmächtige ist."
Da offenbarte ihm der Priester das Folgende:
"Der 'erste Erdzweig' in der ersten Linie des Himmel-Hexagramms hat sich in der ersten Linie des Flucht-Hexagramms zum 'fünften Zweig' gewandelt, wandte sich gegen den 'ersten Zweig' und besiegte ihn. Dem 'fünften Zweig' entspricht der 'Drache' und dem 'ersten Zweig' die 'Ratte'. Der Allmächtige floh vor der Revolte des Drachen (Dragon) und kroch in ein Rattenloch. Eine alte Weisheit lautet: 'Der Himmel öffnet sich der Ratte'; heute heißt es: 'Der Himmel schließt sich der Ratte'. Kriech in ein Rattenloch und suche den Allmächtigen dort."10. X X X Erzengel hatte es nun recht eilig den Allmächtigen zu finden, stattete dem alten taoistischen Priester schnell seinen Dank ab und machte sich auf, das Rattenloch zu suchen. Auf dem Wege dorthin stieß er zufällig auf einen Tempel des Drachengeistes, was ihn sehr in Erstaunen versetzte.
"Drache ist Miris Beiname. Miri muß also hier sein", sagte er sich und spazierte in den Tempel. Er war auch tatsächlich hier, aber der Miri, der in alten Tagen Regen, Wind und Donner beschwören konnte, der war es nicht; nur eine Statue aus gebranntem Ton stand da. Die Ohren waren abgefallen, die Augen herausgefingert, die Stirn eingeschlagen, und kein einziges Schälchen mit Opfergaben stand davor. Es war offensichtlich, daß Miri von Dragon besiegt worden war und sich an diesen Ort zurückgezogen hatte.
"Miri, du Halunke! Du hast den Himmlischen Vater wohl im Stich gelassen, daß du allein hierher gekommen bist? Ich habe den Allmächtigen nicht vergessen und suche ihn überall ... ", wies er Miri zurecht.
Höhnisch entgegnete Miri:
"Erzengel, du Schuft! Den Allmächtigen suchen, was soll denn das bedeuten? Das Ende des Himmelspalastes bedeutet auch das Ende der Herrschaft des Himmlischen Vaters, denn wie könnte es ohne Himmelspalast einen Himmlischen Vater geben? Wenn es den Allmächtigen noch gäbe, dann wäre er ein toter Allmächtiger. Ein toter Allmächtiger ist nicht mehr wert als eine lebendige Ratte. Mit anderen Worten, es ist doch ganz in Ordnung, daß auch der Allmächtige zugrunde gegangen ist. Und um ehrlich zu sein, du, ich, der Allmächtige, sind wir denn nicht in den alten Zeiten alle nur durch den Aberglauben der Völker fabriziert worden? Haben wir ihnen als ihre eigene Fabrikation nicht unzähliges Leid zugefügt? Frönte denn nur der Allmächtige allein dem Luxus? Waren da nicht noch andere, die das Volk unter solchen Vorwänden wie dem Sammeln von Spenden und Opfergaben für den Himmlischen Vater um ihr Geld brachten? Haben sich nicht viele Generationen lang verbrecherische Lumpen im Namen des Allmächtigen auf den Kaiserthron gesetzt? Benutzten im letzten Weltkrieg nicht die Monarchen, Staatsoberhäupter und Heerführer eines jeden Landes alle den Namen des Allmächtigen, um auf diese Art unzählige Menschen zu töten? Haben denn nicht einige Staaten andere Länder unter dem Vorwand erobert, dem Willen des Allmächtigen zu folgen, und die dann ihres Vaterlandes beraubten Völker bis auf die Knochen ausgebeutet? Da heute der Aberglaube ausgelöscht ist, ist auch der Allmächtige vernichtet. Wieso sollten Du und ich als Anhängsel des Allmächtigen da nicht ausgelöscht sein? Hunderte Millionen von Menschen wurden zu Katzen, während die einstmals Mächtigen alle zu Ratten wurden. Wenn Du den Allmächtigen finden willst, probier's doch in einem Rattenloch!"
Als Erzengel alles gehört hatte, dachte er, daß Miri doch ein unverschämter Kerl sei, aber wozu nützte unter den gegebenen Umständen eine Antwort. Er verließ den Tempel, um sich wieder auf die Suche nach dem Allmächtigen zu begeben. Da traf er auf eine Gruppe von Leuten, die gerade aufbrachen, um als vorbeugende Maßnahme gegen die Pest eine Rattenvertilgung durchzuführen. In diesem Moment erinnerte sich Erzengel daran, daß es im Orakel des taoistischen Priesters hieß, der Himmlische Vater sei in einem Rattenloch, und er schrie:
"Hallo! Sie dürfen bitte die Ratte nicht fangen. Die Ratte ist niemand anderes als der aus dem Himmel entflohene Himmlische Vater."
Niemand antwortete ihm, doch aus allen vier Windrichtungen erscholl es:
"Er ist da, er ist da. Dragon ist gekommen. Nun sind die letzten Tage der Ratte gezählt."
(Beijing, 1928)
Übersetzung aus dem Koreanischen: Frank Hoffmann
Nachbemerkung Im Pantheon koreanischer Nationalhelden einen der oberen Ränge einnehmend, von Kim Il Sung als "ein Mann mit herausragendem Intellekt und von unbestechlicher Logik" gepriesen, und im Süden im Wachsfigurenkabinett der 'Unabhängigkeitsgedenkhalle' verewigt, ist der Historiker, Reformer, Schriftsteller, Journalist und Publizist Tanjae Sin Ch'ae-ho (1880-1936) heute in beiden Teilen Koreas wohl noch prominenter als er es zu seinen Lebzeiten war. Koreanischen Oberschülern und Studenten sind einige seiner Werke meist aus sprachlich modernisierten und preiswerten Han'gŭl-Leseausgaben bekannt. So findet etwa Sins umfassende, im Exil verfaßte und erstmals 1931 in Korea publizierte Studie über die Geschichte des koreanischen Altertums (Chosŏn sanggosa) in jedem südkoreanischen Schulgeschichtslehrbuch Erwähnung. Was Sin Ch'ae-ho im heutigen Korea so populär macht, ist nicht allein seiner Rolle als Historiker und seinem journalistischen Engagement, sondern auch seiner kompromißlosen Haltung gegenüber den japanischen Kolonialherren zuzuschreiben. Diese Haltung findet ihren Ausdruck in zahlreichen Essays und Erzählungen, in denen Sin die kolonialisierte und sich in jeglicher Beziehung im Übergang befindende koreanische Gesellschaft shildert. Sin selbst verkörpert diesen Übergang und vereint in sich sämtliche Entwicklungsphasen (Neo-Konfuzianismus, Aufklärungsbewegung, Kulturnationalismus, militanter Nationalismus und schließlich Kommunismus oder Anarchismus) koreanischer Intellektueller vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Befreiung Koreas im Jahre 1945.
In der Niedergangsphase der Chosŏn-Zeit (1392-1910) als Sohn eines verarmten Gelehrten in der Provinz Ch'ungch'ŏngnamdo im Südwesten Koreas geboren, genoß Sin eine klassische neo-konfuzianische Ausbildung an der damals erstrangigen Sŏnggyun'gwan-Akademie in der koreanischen Hauptstadt. Schon als Achtzehnjähriger beteiligte er sich an Aktivitäten der koreanischen Reform- und Aufklärungsbewegung. Dieses Engagement setzte er u.a. in seiner Funktion als Zeitungsredakteur und als Gründungsmitglied der patriotisch-aufklärerischen Neuen Volksgesellschaft (Sinminhoe) fort. Noch kurz vor dem offiziellen Okkupationsakt durch die Japaner im Jahre 1910 verließ Sin seine Heimat, um aus dem Exil weiterhin für die Unabhängigkeit Koreas zu kämpfen. Die Okkupation seines Heimatlandes und der Beginn seines Lebens in China bedeuteten für Sin auch eine ideologische Neuorientierung — weg von der gemäßigten Linie der alten Royalisten und neuen Kulturnationalisten, weg von Diplomatie und Langzeittaktik, und hin zu einem sehr aktionsbetonten militanten Nationalismus. In den 10er und 20er Jahren lebte er in Wladiwostock, Qingdao, Shanghai, Fengtien und Beijing, wo er seinen Lebensunterhalt u.a. durch Tätigkeiten als Schulleiter, Herausgeber und Mitherausgeber verschiedener Exilzeitschriften sowie als Redakteur für chinesische Tageszeitungen bestritt. Nach der Erste-März-Bewegung beteiligte er sich im April 1919 an der Organisation der Koreanischen Provisorischen Regierung (1919-1945) in Shanghai. Außerdem gab er das Wochenblatt Neues Korea (Xin Dahan) heraus, das einen Kontrapunkt zur von Yi Kwang-su (1892-1950?) edierten Unabhängigkeitszeitung (Tongnip sinmun) der Exilregierung bildete. Schon bald kam der Bruch mit der noch immer auf Hilfe von den Großmächten hoffenden Exilregierung, die daher in vorliegender Erzählung (sosŏl) als "Bettler-Regierung" bezeichnet wird. Doch während andere ehemalige Mitglieder der Exilregierung wie Yi Tong-hwi (1873-1935) eine führende Rolle in der in China und der Mandschurei aufkommenden kommunistischen Bewegung spielten, fühlte sich Sin von den ständigen Querelen innerhalb des kommunistischen Lagers abgestoßen; in seiner Erzählung kritisiert er, daß sich die Widerstandsbewegung "aufgrund der Tendenzen in der Kommunistischen Partei" von selbst aufzulösen drohe. Sich weder bei den Nationalisten noch bei den Kommunisten heimisch fühlend studierte Sin die Werke Kropotkins (1842-1921) und anderer radikaler europäischer Theoretiker. Neben russischen und französischen Werken las er aber auch die Schriften japanischer und chinesischer Anarchisten, deren Verschmelzung von Internationalismus, Patriotismus und Militanz ihm sowohl zu den handlungsunfähigen, sich in ihren Faktionskämpfen verharrenden Nationalisten als auch zu den sich an Moskau orientierenden Kommunisten, deren 'Diktatur des Proletariats' er kategorisch ablehnte, eine Alternative offerierte. Seit etwa 1921 begann er mit chinesischen Anarchisten wie Li Shizeng (1881-1973) und Cai Yuanpei (1868-1940) zusammenzuarbeiten. Für die koreanischen Anarchisten in China galt Sin als intellektuelle Vaterfigur der Bewegung. Zusammen mit chinesischen Genossen wie dem Schriftsteller Ba Jin (geb. 1904) und koreanischen Landsleuten wie Yu Rim (1894-1961) und Chŏng Hwa-am (1896-1981), die nach 1945 eine aktive Rolle in der südkoreanischen Oppositionsbewegung spielen sollten, nahm Sin an zahlreichen anarchistischen Unternehmungen und Organisationen teil. Später trat er auch dem Verband Koreanischer Anarchisten in China (Chae Chungguk Chosŏn Mujŏngbujuŭija Yŏnmaeng) bei, der noch bis 1949 existieren sollte. Im Mai 1928 wurde er bei der Einreise nach Taiwan, wo er gefälschte ausländische Wechsel im Wert von 12 000 Yuan eintauschen wollte, um die Errichtung einer Bomben-Manufaktur mitzufinanzieren, von der japanischen Küstenwache festgenommen, nach Dairen überführt und schließlich zu zehn Jahren Haft verurteilt. Er starb noch während seiner Haft im Februar 1936 an einer Gehirnblutung.
Sin Ch'ae-hos wichtigste anarchistische Texte sind das für die Ŭiyŏltan, einer anti-japanischen Guerillaorganisation, verfaßte Manifest der koreanischen Revolution (Chosŏn hyŏngmyŏng sŏnŏn) vom Januar 1923, in der die Anwendung gezielter Bombenanschläge und Attentate gegen japanische Objekte und koreanische Kollaborateure gefordert wird, sowie die hier vorliegende Erzählung Die große Schlacht der Drachen, die er kurz vor seiner Verhaftung fertiggestellt haben muß, aber wahrscheinlich nicht mehr veröffentlichen konnte. Seine Erzählung — vielleicht wäre "Politmärchen" ein passenderer Begriff — verknüpft Szenen und Figuren aus bekannten ostasiatischen Überlieferungen wie dem traditionellen chinesischen Drachentanz am Neujahrstag und koreanischen Volkserzählungen wie "Hŭngbu und Nolbu" (die Geschichte zweier Brüder, eines guten und eines bösen), mit zahlreichen Anspielungen auf buddhistische, taoistische, konfuzianische und christliche Schriften und Legenden. Auch die beiden Protagonisten Dragon und Miri sind diesem Kanon religiöser Volkserzählungen und Legenden entlehnt. Während im Abendland der Drache lange mit Satan selbst identifiziert wurde, ist im chinesischen Kulturkreis durch das Yijing, das Buch der Wandlungen, schon frühzeitig eine klare Identifizierung des Drachen mit der herrschenden Klasse etabliert worden. Der Drache diente daher chinesischen Kaisern und koreanischen Königen jahrhundertelang als Herrschaftsemblem. So veranlaßte beispielsweise Sejong (1419-1450), der vierte Monarch der Chosŏn-Zeit, um die neu gegründete Dynastie und seinen eigenen Herrschaftsanspruch zu legitimieren, die Kompilation eines Gedichtzyklusses mit dem Titel Lieder der in den Himmel fliegenden Drachen (Yongbiŏch'ŏn'ga). In diesem Sinne folgt Sin Ch'ae-ho, wenn er zur Legitimation seines utopischen Gesellschaftsmodells den Drachen in den Mittelpunkt seiner Geschichte stellt, ganz der Tradition. Sein Text repetiert die unterschiedlichen, dem Drachen im Westen und im Osten zugeschriebenen Charakteristika, nimmt aber gleichzeitig eine revolutionäre Umbewertung der durch den Drachen symbolisierten Sozialordnung vor. Während in Sins oben genanntem Manifest noch von "Korea" die Rede war, "das zur Beute des Räubers Japan geworden ist, der den Menschen das Blut aussaugt wie stechende Moskitos oder geifernde Schakale", finden sich in der fünf Jahre später entstandenen Erzählung keine realen geographischen Namen mehr. Allerdings werden Ort und Zeit der Handlung wage durch den Hinweis auf den "Neujahrstag des Mujin-Jahres", also u.a. des Jahres 1928, und die provokativ eingefügten Zensurzeichen (◯), zugleich auch Symbol für Nihilismus und Anarchismus, angedeutet. Auf der anderen Seite schildert unser Text aber nicht die Befreiung eines bestimmten Landes, nämlich Koreas, sondern die Vernichtung der beschriebenen hierarchischen Weltordnung von Himmel und Erde, Kolonialherr und Kolonie, Herr und Untertan. Miri, der ostasiatische Drache, "Stiefellecker und Scherge der herrschenden Klasse", verliert den Kampf gegen den revolutionären Nihilisten Dragon. Anfänglich als traditioneller Held, als mysteriöser Deus ex machina auftretend, scheint sich dieser abendländische Dragon — auch im koreanischen Originaltext mit dem englischen Wort "Dragon" bezeichnet — schließlich als Symbol für die Gruppe der aufgeklärten Anarchisten und Revolutionäre zu entpuppen, die "das Volk dazu angestiftet" haben Religionen zu verbannen, Klassenunterschiede abzuschaffen, das ökonomische Ausbeutungssystem zu zerschlagen, nationale Vorrechte und Machtansprüche aufzugeben, und in "Globusland" eine neue anarchistische Gesellschaft aufzubauen. Durch die schablonenhafte Darstellung des Kampfes und die folgende Beschreibung der neuen Gesellschaftsordnung, die durch eine gewaltätige, plötzlich ausbrechende Revolution erreicht worden ist, angestiftet von dem intellektuellen, im Westen trainierten Dragon, scheinen aber auch die Fangstränge von Sins konfuzianistischer Erziehung hindurch. Im Unterschied zu den Texten der kommunistisch orientiereten proletarischen Literaturbewegung jener Zeit, etwa denen der KAPF Gruppe, verbleiben die in seiner Erzählung so häufig erwähnten Volksmassen (minjung) ohne eigene Stimme in einer verschleierten Distanz; und während Frauen lediglich die Rolle von Feen, Geliebten und Verräterinnen zukommt, sind es wiederum die intellektuellen Organe, die Bürgerzeitung und ein ehemaliger Priester, denen eine Stimme gegeben wird.
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Originaltitel: Yonggwa yongŭi tae'gyŏkchŏn. Der Autor zeichnete auf der Titelseite mit dem Pseudonym "Yŏnsi'mongin" (Beijinger Träumer) und datierte das Manuskript auf der letzten Seite mit "Beijing 1928". Die wahrscheinliche Erstveröffentlichung erfolgte aber erst im Jahre 1966 in Form einer mit Glossen versehenen Han'gŭl-Fassung in dem gleichnamigen nordkoreanischen Sammelband: Sin Ch'ae-ho, Ryonggwa ryongŭi tae'gyŏkchŏn, P'yŏngyang: Chosŏn Munhak Yesul Ch'ongdongmaeng Ch'ulp'ansa 1966, pp. 17-31. In Südkorea erschien der Text elf Jahre später erstmals in einem der dreibändigen Gesamtausgabe von Sins Werken nachgeschobenen Sonderband. Letztgenannte Ausgabe scheint dem gemischtschriftlichen und mit zahlreichen später hinzugefügten Korrekturen des Autors versehenen Manuskript recht exakt zu folgen und wurde als Übersetzungsvorlage benutzt: Sin Ch'ae-ho, "Yonggwa yongŭi tae'gyŏkchŏn", Tanjae Sin Ch'ae-ho chŏnjip, Bd. 4 (Sonderband), hrsg. Tanjae Sin Ch'ae-ho Sŏnsaeng Ki'nyŏm Saŏphoe, Seoul: Hyŏngsŏl Ch'ulp'ansa 1977, pp. 275-298.
* * *
Der Text lag bisher nicht in einer westlichsprachigen Übersetzung vor. Es sei hier jedoch auf einige englisch- und französischsprachige Studien zu Autor und Werk sowie auf zwei Übersetzungen von Sins Manifest der koreanischen Revolution hingewiesen: Chang Ŭl-byŏng, "Shin Chae-ho's Nationalism and Anarchism", Korea Journal 26, Nr. 11 (November 1986): 21-40; Ha Hyŏn-gang, "The Life and Thought of Sin Ch'ae-ho", Korea Journal 12, Nr. 9 (September 1972): 49-52; Hong Yi-sup, "Sin Ch'ae-ho (1880-1936): Sa vie et ses idées", Revue de Corée 5, Nr. 4 (Winter 1973): 27-34; Oh Jang-Whan, "Histoire du mouvement anarchiste coréen des origines a 1931", unveröffentlichte Dissertation, Université Paris VII, 1987; Michael Robinson, "National Identity and the Thought of Sin Ch'aeho: Sadaejuŭi and Chuch'e in History and Politics", Journal of Korean Studies 5 (1984): 121-142; Michael Robinson, "Sin Ch'ae-ho: Portrait of a Patriot", Korean Culture 7, Nr. 2 (Juni 1986): 4-14; Sin Yong-ha, "Enlightenment Thought of Sin Ch'ae-ho", Korea Journal 20, Nr. 12 (Dezember 1980): 4-17; Song Chae-so, "The Changes of Tanjae's Thought Seen in 'The Dream Sky' and 'The War of the Dragons'", Korea Journal 20, Nr. 12 (Dezember 1980): 18-29; [Ŭiyŏltan] I-Jul-Tan, "Déclaration des Révolutionnaires Coréens: 'I-JUL-TAN'", La Revue Anarchiste 31 (Februar 1925): 19-22; Ŭiyŏltan, "Declaration of Korean Revolution", Journal of Social Sciences and Humanities 57 (Juni 1983): 76-84.
F.H.
© 1995 Frank Hoffmann